Die arabisch-islamische Welt ist heute noch häufig einem hegemonialem Diskurs unterworfen, in welchem der „westliche“ Blick auf die dortigen politisch-sozialen Verhältnisse durch ethnozentrische, kulturalistische, ahistorische und stereotype Bilder geprägt ist. Der Politische Islam fungiert in diesem Kontext als das Schreck- und Feindbild „aufgeklärter“ Bürger, der wahlweise für die Rückständigkeit, Gefährlichkeit oder auch Unmenschlichkeit der ganzen Religion steht. Durch diese Sichtweise, die die gesamte islamische Welt und erst recht den Politischen Islam als einen einheitlichen Block wahrnimmt, wird eine differenzierte und konstruktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen verhindert.
„Islamisches Erwachen“ als antikoloniale Bewegung
Damit setzt sich heute als kulturalistischer Diskurs fort, was vor über 150 Jahren als koloniale Eroberung in Nordafrika und dem Nahen Osten begann und dies von Großbritannien und Frankreich als „white men´s burden“ verbrämt wurde. Widerstand dagegen begann sich in den 1870er und 1880er Jahren in Form des „Islamischen Erwachens“ zu formieren.
Es waren vor allem muslimische Intellektuelle, die als Speerspitze des antikolonialen Denkens das Missverhältnis zwischen Europa und ihrer Heimatwelt ins Zentrum ihres Denkens rückten. Nicht nur die Niederlage auf der militärischen Ebene machte ihnen zu schaffen, sondern vor allem die kulturelle Unterlegenheit. Aus ihrer Sicht erschien da der Rückgriff auf den Islam als Identitätsstifter der einzig logische Ausweg. Nur aus ihm heraus könne die arabisch-islamische Welt von den Übeln des Kolonialismus befreit werden. Zugleich sollte die Besinnung auf die Wurzeln des Glaubens eine starke, geeinte Gemeinschaft hervorbringen, die nach dem Vorbild der Urgemeinde in Mekka und Medina dem Idealtyp einer gerechten Gesellschaft entsprechen sollte.
Doch lehnten sie Europa und die Moderne nicht gänzlich ab, sondern lediglich die als negativ empfundenen „Begleiterscheinungen“ wie Kolonialismus, den als absolut empfundenen Materialismus sowie Säkularismus. Bekannt mit europäischen Sprachen, Ideen und Gepflogenheiten, wollten sie eine Anpassung ihres Glaubens an moderne Errungenschaften, um auf diese Art einen eigenständigen kulturellen Ausdruck zu entwickeln. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Ideologie, die den einen, als wahrhaft dargestellten, Islam und dessen Implementierung in der Gesellschaft zum allgemeinen Ziel erklärte. Zu diesem Zweck wurden seine ursprünglich spirituellen Lehren mit einem politischen Anspruch versetzt, den der Gründer der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna, programmatisch zum Ausdruck brachte: „Der Nationalismus/Die Nation ist Teil des Glaubenssystems“.
Krisenerfahrungen als Motor des Politischen Islam
Doch die Stunde des Politischen Islam in der arabischen Welt schlug erst in den 1970er Jahren, als er den bisher dominierenden (pan)arabischen Nationalismus ablöste. Dessen Niederlage gegen Israel im Junikrieg von 1967 hatte ihn endgültig diskreditiert und die Versprechen seiner Führer als großmäulige Phantasien entlarvt. Die Befreiung der Massen aus Armut und Unterdrückung sowie die „Befreiung“ Palästinas waren spektakulär gescheitert. Die nationalistischen Regime waren unter der Last der eigenen Versprechen und überbordenden Staatsbürokratien zusammengebrochen. Die daraus resultierenden sozialen, ideologischen und legitimatorischen Krisen beschleunigten den Aufstieg des Politischen Islam. Doch schnell zeigte sich, dass er mehr als nur ein Lückenfüller war: Von Ägypten breitete er sich schnell über den gesamten Vorderen Orient und die islamische Welt aus.
Nach Innen: Wohlfahrt und Erlösung als ideologischer Kern
Seine Attraktivität bezog er nicht nur aus seinem Anspruch, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern, sondern auch aus einem jenseitigen Heilsversprechen: „Gott ist mit den Standhaften, Armen, Unterdrückten. Spätestens im Jenseits erfahrt Ihr Erlösung.“ Bewegungen, wie die der Muslimbrüder in Ägypten, leisten mit ihrer Graswurzelarbeit unmittelbare Hilfe bei sozialen Härten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Dabei sind sie um ein vielfaches effizienter, günstiger und schneller als es der jeweilige Staat jemals war. Die angebotenen Leistungen reichen von Kindesbetreuung, Gesundheitsfürsorge, Altenbetreuung bis hin zu Armenspeisung und dem Erbringen von breiten Bildungsangeboten sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch Erwachsene. So verwundert es kaum, wenn Bewegungen des Politischen Islam heute über eine breite Massenbasis verfügen, deren Loyalität kaum zu erschüttern ist. Viele Menschen würden ohne deren Leistungen schlicht nicht überleben.
Nach Außen: Kampf gegen Imperialismus, Unterdrückung und Besatzung
Der Anspruch, die Lebensverhältnisse der Menschen nachhaltig zu verbessern ist in vielen Ländern des Nahen Ostens auch davon abhängig, inwieweit äußere Dominanz, Besatzung und Vereinnahmungsversuche begrenzt oder zurückgedrängt werden können. Denn bis heute gilt für die meisten Länder der Region – auch wenn sie vermeintlich souverän sind – dass sie vom Westen noch immer als Dominion betrachtet werden. So verstehen sich etwa die palästinensische Hamas und die libanesische Hizbollah auch als Widerstandsakteure gegen westlich-israelische Angriffe und Besatzung, die die Lebensgrundlagen der Menschen bedroht. Hassan Nasrallah, starker Mann der Hizbollah, ging in einem Interview sogar so weit, zu behaupten, dass es ohne die israelische Invasion in den Libanon 1982 die Organisation heute nicht gäbe, eine Einschätzung, die übrigens auch vom israelischen Ex-Premier Ehud Barak geteilt wird.
Die ausgeübte Gewalt dieser Organisationen ist nach deren Selbstverständnis immer Gegengewalt in einem asymmetrischen Konflikt und somit einem strategisch-rationalen Kalkül unterworfen, das sich an die jeweilige politische Situation anpasst. Wenn möglich, wird darauf verzichtet.
Dschihadistische Organisationen wie al-Qaida etwa oder die al-Nusra Front in Syrien legitimieren ihren Kampf gegen arabische Regime zwar auf ähnliche Weise, indem sie oftmals versuchen, eine Verbindung zwischen diesen Regimen und dem Westen herzustellen. Doch unterliegt die Gewaltanwendung bei ihnen kaum ersichtlichen Grenzen oder rationalen Erwägungen. Während das Politische bei Organisationen wie den Muslimbrüdern, Hamas, Hizbollah oder auch der salafistischen al-Nur Partei (Ägypten) immer Übergewicht gegenüber dem Religiösen hatte und somit auch die mögliche Gewaltanwendung diesen Zielen untergeordnet war, kann man das kaum von der al-Qaida behaupten. Das starke Übergewicht irrational legitimierter Gewaltanwendung (Dschihad als Auftrag Gottes) verdeckt das vielleicht vorhandene Politische an deren Programmatik. Erschwerend kommt hinzu, dass sie sich jeglichem politischen Aushandlungsprozess oder Kompromiss verweigern, indem sie wahlweise auf den Unglauben oder das schlichtweg Böse bei ihrem Gegner verweisen. Deshalb ist es treffender, bei diesen Organisationen von geradezu antipolitischen Bewegungen zu sprechen.
Politischer Islam als oppositionelle Artikulationsform – weder emanzipatorisch noch reaktionär
Doch auch abseits der Gewaltfrage ist es irrig, von einem monolithischen Politischen Islam zu sprechen. Je nach nationalen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen, haben sich über die Jahrzehnte sehr unterschiedliche ideologische Ausprägungen herausgebildet. Sein Spektrum ist in seiner Vielfalt durchaus mit demjenigen linker Bewegungen und Parteien zu vergleichen; die Uneinigkeit darin auch. Unterschiede existieren sowohl hinsichtlich der Staatskonzepte, der sozialen Frage, der Umsetzung der Scharia, Frauenrechten etc.
Die kollektive Erfahrung existentieller Krisen, die sich tief in das Bewusstsein dieser Bewegungen und deren Anhängerschaft eingeprägt hat, bleibt aber der gemeinsame Boden, auf dem sie sich bewegen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Unruhen des Jahres 2011 in der arabischen Welt nicht zuletzt Resultat der komplexen Verbindung von bitterer Armut (in Ägypten müssen 40% der Menschen mit weniger als 2 $ am Tag auskommen), Perspektivlosigkeit, offener Korruption und Unvermögen des Staates waren, in deren Folge islamische Parteien und Bewegungen an die Schalthebel der Macht gespült wurden.
Auch wenn eine Beurteilung ihrer Leistungen als Regierungsparteien wohl noch zu früh kommt und der blutige Militärputsch gegen die Muslimbruderschaft in Ägypten dem dortigen Experiment ein vorzeitiges Ende gesetzt hat, so muss man weiterhin mit diesen Akteuren rechnen. Nicht als Reaktionäre, die ihre Gesellschaften ins Mittelalter zurückführen wollen – wie oft behauptet wird – oder als emanzipatorische Revolutionäre, die die klassenlose Gesellschaft anstreben. Sondern als moderate, soziale Bewegungen, die sich flexibel den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen können, weil sie sehr nah an den Bedürfnissen und Hoffnungen der Menschen dran sind und deren negative Erfahrungen von Unterdrückung, Armut und Verfolgung über die Jahrzehnte geteilt und begleitet haben.
Imad Mustafa, 1980 in Esslingen/Württemberg geboren. Studierte Politologie, Orientalistik und Soziologie an den Universitäten Heidelberg, Damaskus und Frankfurt a.M. Er ist Mitbegründer des Blogs dasmigrantenstadl.blogspot.com und arbeitet als freier Autor zum Politischen Islam und der Arabischen Welt. Im September erschien sein Buch “Der Politische Islam: Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah” bei Promedia (Wien).