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Brasilianische Prostituierte werben in Telefonzelle (Quelle: Thomas Hobbs / https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/ d/dc/Prostitutoin_Adverts.jpg/1024px-Prostitutoin_Adverts.jpg)
Ganz Fußballdeutschland fiebert mit. Die Vorfreude und Spannung steigt. Denn heute Abend trifft die Nationalelf im Achtelfinale auf Algerien, den Angstgegner, den Deutschland bisher noch nie bezwingen konnte. 27,25 Millionen TV-Zuschauer haben das Vorrunden-Endspiel Deutschland-USA verfolgt. Wahrscheinlich werden es ebenso viele auch heute verfolgen, im Biergarten, beim Grillfest mit Freunden oder daheim. Was wir NICHT sehen, wenn Deutschland spielt, sind die Kinderprostitution nahe der Touristen-Hochburgen, die Kürzungen im Sozialsystem, die Räumungen der Fafelas, bei denen Tausende Menschen ihr zu Hause verloren haben, und die zunehmende Gewaltbereitschaft der Polizei. Eine etwas andere Vorberichterstattung.
Was ich nicht möchte, ist, euch den Spaß am Fußball zu nehmen. Das kann ich wohl auch gar nicht. Fußball ist für viele Leidenschaft, Begeisterung und Ablenkung vom Ich. Was ich nur möchte, ist euch erneut aufmerksam zu machen auf die so bitteren Entwicklungen, die ein sportliches Großereignis wie die Fußball-WM in Brasilien mit sich bringt. Dabei wird schnell ersichtlich, dass das Argument, mit dem die WM den Brasilianern verkauft wurde, ein schlechter Scherz ist. Das Wirtschaftswachstum – generiert durch Investionen in die Bau- und Tourismusbranche – verbessert das Leben der Brasilianer keinesfalls; es verschlechtert lediglich die bestehenden Verhältnisse – trotz der zweimonatigen Illusion einer heilen (Fußball-)Welt.
WM doppelt so teuer wie Bildungsetat
So reisen Zigtausende Besucher aus aller Welt nach Brasilien, um die Spiele in kernsanierten und frisch-gebauten Stadien zu verfolgen, für Ticket-Preise, die sich die Fußballfans vor Ort nicht leisten können – und wenn ein Stadion noch nicht fertig ist oder die Infrastruktur nicht so steht wie vorher zwischen FIFA und der brasilianischen Regierung vereinbart, meckern wir und beschweren uns, warum SO ETWAS nur passieren kann.
Rund 10 Milliarden Euro soll das Land, das alle Fußballrekorde hält, die Fußballweltmeisterschaft gekostet haben. Das entspricht rund 5 % des Staatshaushalts und der doppelten Summe des Bildungsetats. Im Oktober 2007, als Brasilien die Zusage der FIFA für die WM bekam, ist die Regierung noch mit Kosten von weniger als einer Milliarde Euro ausgegangen. Zu recht erzürnt das die Brasilianer. Das Versprechen von Wirtschaftswachstum und einem Boom in der Tourismusbranche kann die steigenden Preise für den öffentlichen Personennahverkehr und das fehlende Geld im Gesundheits- und Bildungswesen nicht kompensieren.
Dennoch sind die derzeit die meisten Brasilianer scheinbar befriedet. Jetzt, wo die Spiele laufen, wird kaum demonstriert. Kein Vergleich zu den Hunderttausenden, die vor gut einem Jahr auf den Straßen Brasiliens, vor allem in Rio, lautstark gegen die WM protestiert haben – so viele wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Doch dass derzeit nur noch wenige Menschen auf den Straßen gegen die horrenden Ausgaben der Regierung für das Fußballspektakel protestieren, liegt auch an der gestiegenen Gewaltbereitschaft der Polizei. Gummigeschosse und Tränengas werde fast immer eingesetzt. Das bekommt einer Mittelschicht nicht, die den Fußball ebenso liebt wie wir Deutsche.
Prostituierte lernen Englisch, um sich besser zu verkaufen
Wenn Deutschland spielt, sollte uns außerdem bewusst sein, dass zwischen 250.000 und einer halben Million Kinder und Jugendliche ihre Körper an Touristen und Fußballfans verkaufen. Zynischerweise haben pünktlich zur WM viele Prostituierte in ihre Bildung investiert und an Englischkursen teilgenommen, damit sie mit den Freiern besser verhandeln können. Das von nationalen sowie internationalen Politikern umjubelte Wirtschaftswachstum führt auch dazu, dass die Prostitution – die ab 18 Jahren in Brasilien legal ausgeübt werden darf – blüht wie selten. Um ein Teil des wachsenden Kuchens abzubekommen, werden nun aber auch vermehrt Kinder auf die Straßen in der Nähe der Stadien und WM-Hotels geschickt.
(Mehr zur Motivation und der Situation von Kinderprostitutierten während der WM lest ihr hier und hier (beide auf englisch). In den bewegenden Blog-Einträgen treffen die Kollegen von “The Mirror” und CBCNews brasilianische Kinderprostituierte.)
Mehr Obdachlose als vor der WM
Wir dürfen außerdem nicht vergessen, wie viele Fafelas gewaltsam geräumt worden sind, um Platz für Stadien, Hotels und andere Prestigeprojekte zu machen. Hunderttausende verloren dabei ihr zu Hause. Erst vor zwei Wochen demonstrierten rund 30.000 Mitglieder der Bewegung obdachloser Arbeiter (MTST) gegen die hohen Kosten der WM. Letzte Woche kamen nach Angaben der Demonstranten erneut mehrere Tausend zusammen, um gegen Immobilienspekulationen und überteuerte Mieten zu protestieren. Die obdachlosen Arbeiter leiden darunter, dass sie sich weder preiswerte Wohnungen noch eine basale Gesundheitsversorgung leisten können. Die MTST hat Anfang Juni bekannt gegeben, dass sie während der WM nicht protestieren will. Das und die Zusage der Regierung, die obdachlosen Arbeiten dürften die von ihnen besetzte Fläche neben dem Stadion in Sao Paolo in Zukunft besiedeln, mag die relativ geringe Beteiligung bei ihren Protesten erklären.
Was wir nicht sehen
Uns sollte klar sein, dass während unseres heutigen Fußballabends viele Menschen in Brasilien an Hunger leiden, keinen Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung haben sowie steigenden Preisen von öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesetzt sind; Kinder prostituieren sich, um vom Boom der Immobilien- und Tourismusbranche zu profitieren und arme Bevölkerungsschichten leiden unter steigenden Mietpreisen und mangelndem Wohnraum.
Wir sollten bedenken, was wir nicht sehen, wenn wir uns heute auf die Couch lümmeln, das Bierglas heben und uns zuprosten, während wir – und das ist sicher – auf eine spannende Partie zwischen Deutschland und Algerien hoffen.